Vom Tage der Ewigkeit und von der Bedrängnis dieses Lebens

1. O selige Behausung der himmlischen Stadt, helleuchtender Tag der Ewigkeit, von keiner Nacht verdunkelt, fortwährend von der höchsten Wahrheit erhellt: stets froher Tag, stets sicherer Tag, nie ins Gegenteil umschlagend.
O wäre dieser Tag schon angebrochen, hätte alles Zeitliche schon ein Ende gefunden.
Den Heiligen strahlt er bereits in nie erlöschender Klarheit; den Erdenpilgern erscheint er bloß von weitem, gleichnishaft.
2. Die Himmelsbürger wissen um seine Freudenfülle; die verbannten Evaskinder seufzen noch über des Lebens Bitterkeit.
Kurz und böse sind die Tage dieses Lebens, voll Schmerz und Not. Den Menschen beflecken viele Sünden, umstricken zahlreiche Leidenschaften, befällt manche Angst, hetzt eine Unzahl von Sorgen, beschäftigt eine Menge Rätsel, fesseln endlose Torheiten, umlagern zahlreiche Irrtümer, plagen Mühen ohne Zahl, bedrücken Versuchungen, entkräften Genüsse, foltern Nöte.
3. Wann finden diese Plagen ein Ende? Wann fallen die Ketten der elenden Knechtschaft übler Gewohnheiten? Wann denke ich nur noch an dich, Herr? Wann werde ich völlig in dir glücklich sein? Wann erfreue ich mich ungehindert wahrer Freiheit, ohne jeden leiblichen und seelischen Druck?
Wann erscheint der vollkommene Friede, unzerstörbar und sicher, innen und außen, ein allseitig gefestigter Friede?
Guter Jesus, wann erhebe ich mich, um dich zu schauen?
Wann betrachte ich die Glorie deines Reiches? Wann bedeutest du mir alles in allem?
Wann weile ich mit dir in deinem Reiche, das du den Auserwählten von Ewigkeit bereitet hast?
Arm und elend blieb ich im Feindesland zurück, wo sich täglich Kämpfe und Bedrängnis häufen.
4. Lindere meine Verbannung, stille mein Leid, denn nach dir geht mein ganzes Verlangen.
Jeden weltlichen Trost empfinde ich als Last.
Dich innerlich zu verkosten, verlangt mich; aber du entgleitest mir.
Ich möchte dem Himmlischen anhängen; doch die zeitlichen Dinge und die unausgeglichenen Leidenschaften halten mich im Banne.
Seelisch wollte ich über alle Dinge hinauskommen; aber körperlich bleibe ich ihnen unfreiwillig verhaftet.
So ringe ich Unglücklicher mit mir selber und falle mir selber zur Last, indem der Geist nach oben, das Fleisch nach unten strebt.
5. Darum hast du, o Wahrheit, offen erklärt: “Wo dein Schatz ruht, weilt auch dein Herz”.
Wenn ich den Himmel liebe, so denke ich gern an Himmlisches. Liebe ich jedoch die Welt, so nehme ich an Weltlichem Anteil und bedauere, was die Welt bedauert.
Liebe ich das Fleisch, schwebt mir oft Fleischliches vor. Ist mir der Geist teuer, erquicken mich geistige Erwägungen.
Ich mag was immer lieben, so rede und höre ich gern davon und trage die entsprechenden Bilder mit mir heim.
Glückselig der Mann, der deinetwegen, Herr, allen Geschöpfen den Abschied gibt, der Natur Gewalt antut, die Fleischeslust durch geistlichen Eifer bändigt.
Er kann mit ruhigem Gewissen ein reines Gebet an dich richten und verdient, sich den Engelchören zu gesellen, indem er äußerlich und innerlich alles Irdische abstreifte.

Thomas von Kempen, Nachfolge Christi. Benzinger Verlag 1979 (Nachdruck der Ausgabe von 1953), S. 217-219.

 

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